Sarin - ein chemischer Kampfstoff! Blog#14

Vor wenigen Tagen berichtete das RedaktionsNetzwerk Deutschland:

"... Russlands Militär erwägt offenbar den Einsatz des Giftgases Sarin in der Ukraine. Ein Teil der russischen Streitkräfte sei bereits mit Gegen­mitteln versorgt worden, heißt es...."

Was ist Sarin und wie wird es hergestellt? Was macht diesen Kampfstoff so giftig? Wurde Sarin bereits als Giftgas eingesetzt? Wie kann man sich gegen Sarin schützen? 

Diese Fragen beantworte ich in diesem Blog! Schließen werde ich, wie üblich, mit einem Fazit und meiner persönlichen Einschätzung.

Was ist Sarin und wie wird es hergestellt?

Sarin wurde erstmals 1939 in Deutschland als potentielles Pflanzenschutzmittel hergestellt. Nachdem sich aber herausgestellt hatte, dass Sarin auch als außerordentlich starkes Giftgas verwendet werden kann, wurde es als chemischer Kampfstoff entwickelt und in großen Mengen hergestellt, allerdings nicht im Kampfeinsatz verwendet. 

Chemisch betrachtet gehört Sarin zur Gruppe der Phosphonsäureester, die korrekte Bezeichnung  lautet Methylfluorphosphonsäureisopropylester (siehe Abb. 1). Die Abkürzung Sarin stammt von den Namen der an der Entdeckung und großtechnischen Entwicklung beteiligten vier Wissenschaftler (Schrader, Ambros, Rüdiger und von der Linde).


Abb.1: Chemische Struktur von Sarin. Einfärbung der Atome; C: schwarz, H: Grau, O: rot, F: grün, P: orange.

Sarin ist eine bei Zimmertemperatur flüssige, farb- und geruchlose, leichtflüchtige Verbindung, die deutlich schwerer als Luft ist und daher zum Boden eines Raums sinkt. Während eines Giftgasangriffs mit Sarin ist man daher in den oberen Stockwerken eines Hochhauses sicherer als im Keller.

Die Herstellung von Sarin ist in wenigen, einfachen chemischen Syntheseschritten aus gängigen Chemikalien möglich. Im letzten Schritt wird Isopropanol mit Methlyphosphonsäuredifluorid zu Sarin umgesetzt (siehe Abb. 2). 


Abb. 2: Umsetzung von Isoproanol mit Methlyphosphonsäuredifluorid zu Sarin.

Allerdings wird Sarin, wie viele andere chemische Kampfstoffe auch, als Binärkampfstoff eingesetzt: 

  • die zwei relativ ungefährlichen "Ausgangsmaterialien" - Methlyphosphonsäuredifluorid und Isopropanol - werden getrennt im  Geschoss gelagert, 
  • der hochgefährliche Kampfstoff Sarin entsteht erst nach dem Abschuss durch einfaches Vermischen der Komponenten unter Zuhilfenahme eines geeigneten Reaktionsbeschleunigers (dabei bildet sich nach 10 Sekunden mit 70 % Ausbeute das Endprodukt Sarin)! 

Für besonders Interessierte: Sarin  besitzt ein Stereozentrum am Phosphoratom, es gibt also zwei Enantiomere, eines hat (R)-Konfiguration, das andere ist (S)-konfiguriert, wobei das (S)-konfigurierte Sarin hauptsächlich für die beobachtete Toxizität verantwortlich ist. Optisch aktives Sarin in reiner Form ist relativ instabil und racemisiert bei Raumtemperatur innerhalb von 20 Stunden vollständig. 

Was macht diesen Kampfstoff so giftig?

Sarin gehört, wie auch Tabun, VX und die "Nowitschok-Familie", zur Gruppe der Nervenkampfstoffe, die ein wichtiges Enzym des Nervensystems, die Acetylcholinesterase, blockieren. Sarin geht, wie in untenstehender Abbildung gezeigt, unter Abspaltung von Fluorid eine kovalente Bindung mit dem katalytischen Serinrest (Ser203) der Acetylcholinesterase ein. Das resultierende Phosphonat (Abb. 3, Mitte) ist biologisch inaktiv, chemisch jedoch noch so reaktiv, dass die Acetylcholinesterase spontan oder durch nukleophile Oxime reaktivierbar ist. So führt die Gabe eines Oxims (R-CH=N-OH) zu einer Rückübertragung der Phosphongruppe auf das Oxim, wobei die biologisch aktive Acetylcholinesterase wieder hergestellt wird (siehe Abb. 3, rechts unten, Reactivation).

Abb. 3: Schematische Darstellung der Hemmung von Acetylcholinesterase durch Sarin. Ganz links ist der katalytische Serinrest 203 der Acetylcholinesterase gezeigt (der restliche Teil der Acetylcholinesterase, bestehend aus >500 Aminosäuren, ist in diesem Schema nicht gezeigt), der mit Sarin unter Abspaltung von Fluorid zum inaktiven Phosphonat reagiert. Das inaktive Phosphonat kann durch Zugabe von Oximen (zB Pralidoxim) zur aktiven Acetylcholinesterase "reaktiviert" werden oder unter hydrolytischer Abspaltung von Isopropanol "altern".

Das funktioniert allerdings nur in einem gewissen Zeitfenster: sobald der Isopropanolrest vom Phosphonat abgespalten wurde (Abb.3, rechts oben, Aging) bildet sich eine stabile Bindung mit der Acetylcholinesterase aus, die nicht mehr durch Oxime reaktivierbar ist. Dieser sogenannte Alterungsprozess ("Aging") verläuft bei Sarin mit einer Halbwertszeit von etwa drei Stunden.

Durch die Blockade der Acetylcholinesterase kommt es zu einem Ansteigen der Acetylcholinspiegel im synaptischen Spalt und zu einer Dauererregung aller betroffenen Nervensysteme. Diese Dauerregung führt zu den beobachteten Giftwirkungen von Sarin: Nasenlaufen, Augenschmerzen, Atemnot, Speichelfluss und Krämpfen über Erbrechen bis hin zur Bewusstlosigkeit und dem Tod durch Atemstillstand.

Wer das allgemeine Prinzip der Acetylcholinesterasehemmung und der daraus resultierenden Toxizität von Sarin vertieft verstehen möchte, dem empfehle ich dieses YouTube Video (in Englisch).

Sarin ist bereits in sehr kleinen Mengen tödlich. Angriffsfläche ist dabei der gesamte Körper, wobei die Aufnahme über die Augen, Haut und insbesondere über die Atmungsorgane erfolgt.

Wurde Sarin bereits als Giftgas eingesetzt?

Obgleich Herstellung und Lagerung von Sarin durch das Chemiewaffenübereinkommen von 1993 verboten ist, wurde es wiederholt eingesetzt, zB

  • in Chile, unter Augusto Pinochet (1973-1988), gegen Oppositionelle,
  • von der irakischen Luftwaffe im März 1988 gegen das von kurdischen Kämpfern kontrollierte Dorf Halabja, etwa 5.000 Menschen starben bei diesem Angriff, 
  • bei einem Anschlag der Aum-Sekte auf die U-Bahn von Tokio 1995, bei dem13 Menschen getötet und mehr als 6.000 verletzt wurden,
  • vom syrischen Regime bei den Giftgasangriffen von Ghutta in 2013.

Wie kann man sich gegen Sarin schützen?

Die Überlebenschancen nach einem Kontakt mit Sarin variieren mit der Dauer des Kontakts, der Wetterlage und natürlich mit der Entfernung von der Quelle. Bei Windstille kann sich Sarin in einem Umkreis von bis zu 20  Kilometern ausbreiten, bevor es zerfällt. Wärme und feuchte Luft beschleunigt den Zerfall. Im Sommer wirkt die Substanz daher nur einige Stunden, im Winter bis zu zwei Tage. 

Schutz gegen das Eindringen von Sarin in den Körper bietet nur ein impermeabler Ganzkörper-Schutzanzug mit Atemschutzmaske sowie Handschuhen und Überschuhen. 

Maßnahmen zum verbesserten Schutz sind prinzipiell möglich:

  • Vor einem Kampfstoffeinsatz können Oxim-Tabletten, zB Pralidoxim, welche die Acetylcholinesterase reaktivieren (siehe Abb. 3) verabreicht werden.
  • Nach einer Vergiftung spritzt man Atropin, ein Parasympatholytikum, das die Wirkung des Überangebotes von Acetylcholin an den Rezeptoren aufheben soll. 
  • Da die Hemmung der Acetylcholinesterase durch Sarin im "gealterten Zustand" irreversibel ist, kann die Enzymaktivität nur durch Neusynthese nach mehreren Tagen bzw. Wochen wiederhergestellt werden. Die Gabe von Serum-Cholinesterase ist ebenfalls möglich.

Giftgasopfer, die einer hohen Dosis Sarin ausgesetzt waren und sofort schwere Symptome entwickeln, haben kaum eine Überlebenschance. Die tödliche Konzentration von Sarin in der Luft beträgt ungefähr 30 mg pro Kubikmeter pro Minute für eine zweiminütige Expositionszeit, wenn ein gesunder Erwachsener normal atmet. Nach leichter bis mittelschwerer Exposition und angemessener Therapie können Patienten ohne Folgeerkrankungen gerettet werden.

Fazit und persönliche Einschätzung: 

  • Sarin ist ein einfach herstellbares Giftgas, das in den letzten Jahrzehnten für terroristische Anschläge und in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen eingesetzt wurde.
  • Der zugrunde liegende Mechanismus für die Giftwirkung ist verstanden, daher existieren prophylaktische Maßnahmen (Oxim-Gabe) und Behandlungsoptionen (Atropin-Gabe) für die Opfer einer Vergiftung mit Sarin. Allerdings ist die Prognose für Betroffene mit schwerer Symptomatik sehr ungünstig.

Meine persönliche Einschätzung: Die Gefahr eines Einsatzes von Giftgas/ Sarin durch russische Truppen im Ukraine-Krieg sollte man ernst nehmen: 

  • russische Soldaten werden auf einen Giftgasangriff vorbereitet (Injektionen von russischen Soldaten mit dem Mittel Pralidoxim und Verteilung von Atropin-Ampullen an den russischen Führungsstab),
  • die Verurteilung von völkerrechtswidrigen Einsätzen von Sarin, zB im syrischen Bürgerkrieg, wurde durch die russische Regierung verhindert und 
  • Russlands innenpolitische Gegner wurden mit neu entwickelten Nervenkampfstoffen (Nowitschok) vergiftet (2018: Sergei und Yulia Skripal im britischen Salisbury; 2020: Alexei Nawalny).

—————————————————————————————————————————

Verantwortlicher: Klaus Rudolf; Kommentare und Fragen bitte an: rudolfklausblog@gmail.com 

Disclaimer: Auf Klaus Rudolfs Blog gebe ich meine persönliche Meinungen und Erfahrungen weiter. Ich bin weder Arzt noch Finanzberater. Bitte informiere Dich breit und konsultiere bei Bedarf einen professionellen Experten in Gesundheitsfragen oder Finanzanlagen.

———————————————————————————————————————————————————


Posts

Paxlovid - eine hochwirksame Pille für Covid-19? Blog#1

Vermögensaufbau und Altersvorsorge – meine Erfahrungen der letzten 35 Jahre! Blog#2

Der Interne Zinsfuß und seine Bedeutung für Aktien-Anleger! Blog#67

Wegovy® (Semaglutid) - ein neues, gut wirksames Medikament zur Gewichtsreduktion! Blog#13

Krankenversicherung als Rentner - besser privat oder gesetzlich krankenversichert? Blog#8

iPhone- und iPad-Apps - meine Favoriten! Blog#40

Aktien-Weltportfolio mit ETFs! Blog#45

Woher kommt der Geruch von frisch geschnittenem Gras und welche Wirkung hat er auf Pflanzen, Tiere und Menschen? Blog#63

Iod-Tabletten – Schutz nach einem nuklearen Unfall? Was man dazu wissen sollte! Blog#12