Kinderdemenz - eine sehr seltene lysosomale Speicherkrankheit. Blog#15
Vor kurzem wurde in dem ZDF-Film "Eine riskante Entscheidung" (in der ZDF-Mediathek verfügbar bis 13.02.2023) die berührende Geschichte eines an Kinderdemenz leidenden kleinen Mädchens erzählt. Die Geschichte war so erzählt, dass ich mich fragte ob das Drehbuch auf wahren Begebenheiten beruhen könnte. Eine kurze Recherche im Internet bestätigte diese Vermutung: tatsächlich gibt es diese genetisch bedingte Kinderdemenz Erkrankung und die im Film thematisierte klinische Studie wurde von der amerikanischen Pharmafirma BioMarin in den Jahren 2013-2015 unter Einbeziehung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf durchgeführt.
In diesem Blog geht es allgemein um "seltene Erkrankungen", insbesondere um lysosomale Speicherkrankheiten und ganz spezifisch um die sehr seltene Kinderdemenz Erkrankung: was weiß man über die Entstehung einer Kinderdemenz, wie häufig tritt sie auf, welche Therapiemöglichkeiten gibt es.
In der EU gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Es gibt mehr als 6000(!) seltene Erkrankungen von denen etwa 80% genetische Ursachen haben. Etwa drei Viertel dieser seltenen Krankheiten betreffen Kinder, von denen rund ein Drittel vor dem fünften Lebensjahr versterben. Zwar leiden definitionsgemäß wenige Menschen an jeder einzelnen dieser seltenen Erkrankungen, durch die große Zahl verschiedener seltener Krankheiten sind aber allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen betroffen.
In den USA gilt eine andere Definition, dort wird eine Krankheit als selten bezeichnet, wenn sie in den USA weniger als 200.000 Menschen betrifft ("Orphan Drug Act").
Der Weg zur Diagnose einer seltenen Erkrankung gleicht häufig einer über viele Jahre andauernden Odyssee, da die initialen Symptome seltener Erkrankungen, wie zB der Kinderdemenz, sehr unspezifisch sind und der Kinderarzt oder Hausarzt kein Expertenwissen über die individuelle Symptome von >6000 seltenen Erkrankungen hat.
Was ist Kinderdemenz? Ursachen, Häufigkeit und Diagnose.
Die im Film beschriebene Form der Kinderdemenz gehört zu einer Gruppe seltener, vererbter Stoffwechselkrankheiten - sogenannter neuronaler Ceroid-Lipofuszinose (NCL) - die in unterschiedlichen Formen und Altersstufen auftreten können. Der Name NCL leitet sich von dem wachsartigen Ceroid-Lipofuszin ab, dass sich bei dieser Speicherkrankheit in den Nervenzellen ablagert.
Ursächlich für diese Ablagerungen ist eine, genetisch bedingte, Fehlfunktion der Lysosomen. Lysosomen sind Zellbestandteile, die man sich als kleine Bläschen innerhalb der Zelle vorstellen kann. In diesen Bläschen wird, mit Hilfe von Enzymen und Säure, der Abfall der Zelle zerlegt um ihn wieder verwertbar zu machen - Lysosomen sind also so etwas wie die biologischen Recyclinghöfe der Zelle! Funktioniert dieses Recycling nicht mehr, führt das zu Ablagerungen und in der Folge zu irreparablen Schädigungen der Zellen.
Insgesamt gibt es mehr als 45 dieser erblich bedingten Lysosomalen Speicherkrankheiten (LSKs, weitere Details siehe hier). Die Neuronale Ceroid-Lipofuszinose (Kinderdemenz) gehört mit ihren 13 Unterformen zu den LSKs und ist wirklich selten: pro Jahr werden Deutschland insgesamt etwa 20 Babys mit einer dieser 13 Unterformen geboren.
Mit dem im Film beschriebenen NCL2 Gendefekt werden ca. 3-4 Kinder pro Jahr in Deutschland geboren. Durch das defekte NCL2 Gen kann ein wichtiges lysosomales Abbauenzym, die Tripeptidylpeptidase (TPP1), nicht hergestellt werden. Das wiederum führt zu Ablagerungen und in der Folge zum Absterben, von Nervenzellen im Gehirn.
Dieser Gendefekt wird autosomal-rezessiv vererbt. Das bedeutet, dass jemand, der ein gesundes und ein krankes Gen besitzt, selber gesund bleibt. Erst wenn jedes Elternteil jeweils ein defektes Gen and das Kind vererbt, wird dieses Kind erkranken. Für jedes weitere Kind dieses Paares beträgt das Risiko, dass ein weiteres Kind auch erkrankt, wiederum 25%.
Durch eine Blutuntersuchung lässt sich das Fehlen des TPP1-Enzyms feststellen, durch eine Gendiagnostik die genaue Mutation des Gens.
Welche Therapiemöglichkeiten für die Kinderdemenz gibt es?
Derzeit kann nur eine Unterform der NCL Erkrankungen, NCL2, medikamentös behandelt werden. Das Prinzip dieser wirksamen Therapie ist denkbar einfach: das aufgrund des Gendefekts nicht gebildete TPP1 Enzym wird biotechnologisch hergestellt und alle zwei Wochen über einen Katheterschlauch direkt in den Hirninnenraum verabreicht.
Damit wird das fehlende Enzym ersetzt und das Absterben der Nervenzellen aufgehalten oder verlangsamt. Die von der amerikanischen Pharmafirma BioMarin von 2013 bis 2015 durchgeführte klinische Studie mit 24 Patienten, an vier Studienzentren in den USA und Europa, zeigte bei 87% der Patienten eine deutliche Verlangsamung des Krankheitsverlaufs.
Aufgrund dieser erfreulichen Ergebnisse konnte der Wirkstoff, Cerliponase alfa, bereits 2017 in den USA und Europa offiziell als Therapie, zur Behandlung der NCL2-Erkrankung, zugelassen werden.
Dieser Therapieansatz wird als Enzyme Replacement Therapy (ERT) bezeichnet, da das fehlende Enzym durch Gabe von außen ersetzt wird! Dasselbe Prinzip wird auch bei anderen lysosomalen Speicherkrankheiten erfolgreich eingesetzt, allerdings sind folgende Punkte zu beachten:
- ERT-Behandlungen kosten mehrere Hundertausend Euro pro Jahr, im Falle von Cerliponase alfa betragen die Jahrestherapiekosten 750.000 Euro.
- Immunologische Reaktionen gegen das infundierte Enzym können in seltenen Fällen auftreten.
- Über einen längeren Zeitraum kann sich eine Resistenz gegen das verabreichte Enzyme entwickeln.
- Und schließlich ist die ERT keine Heilung: die ERT kann zwar das fehlende Enzym ersetzen, aber sie führt nicht dazu, dass der Körper dieses Enzym selbst herstellen kann. Daher muss die Behandlung lebenslang durchgeführt werden, um die Auswirkungen einer lysosomalen Speichererkrankung zu mildern. Für die NCL2 Behandlung muss alle zwei Wochen, in einer Spezialklinik, eine mehrstündige Infusion des Wirkstoffes in den Hirninnenraum verabreicht werden!
Daher testet die amerikanischen Pharmafirma Regenxbio eine attraktive, alternative Technologie, bei der eine einmalige Behandlung ausreichen könnte. Dazu wird mittels eines gut verträglichen Virus (Adeno-assoziierter Virus, Serotyp 9, RGX-181) das Gen für TPP1 in die menschlichen Zellen übertragen. Nach einer einmaligen Verabreichung, direkt in das Gehirn des Patienten, werden die Viren in die Nervenzellen aufgenommen, wodurch eine dauerhafte Quelle für TPP1 geschaffen wird und eine langfristige Korrektur von Zellen im gesamten Gehirn möglich ist! Präklinische Experimente mit diesem Ansatz waren erfolgreich, jetzt müssen klinische Studien die Wirksamkeit in Patienten belegen.
Wie hoch sind die Therapiekosten und was macht die Entwicklung von Medikamenten für extrem seltene Erkrankungen attraktiv?
Obgleich die jährlichen Medikamentenkosten der NCL2 Behandlung mit Cerliponase alfa rund 750.000 Euro pro Jahr betragen, ist das Umsatzpotential aufgrund der geringen Anzahl von Patienten recht klein. Daher wird die Entwicklung von Medikamenten für sehr seltene Erkrankungen durch unterschiedliche Ansätze und Motivationen zusätzlich gefördert:
- in den USA wurde im Jahr1983 ein gesetzliche Verordnung (Orphan Drug Act) erlassen, in der eine Vielzahl attraktiver Anreize für die Entwicklung von Medikamenten für bestimmte seltene Erkrankungen geregelt wurde. So unterstützt und beschleunigt die amerikanische Gesundheitsbehörde die Zulassung ausgewählter neuer Medikamente für seltene Erkrankungen, vergibt wertvolle Gutscheine, die mehrere hundert Millionen US Dollar wert sein können ("priority review voucher") und garantiert eine siebenjährige Marktexklusivität.
- häufig wird die Forschung an extrem seltenen (genetischen) Erkrankungen auch durch Stiftungen oder private Initiativen finanziell unterstützt.
- neue Therapieprinzipien und/oder Technologien können klinisch erprobt und validiert werden und danach breiter eingesetzt werden.
Fazit und persönliche Einschätzung
- Es gibt mehr als 6000 seltene Krankheiten an denen in Deutschland etwa 4 Millionen Personen erkrankt sind.
- Bei der erblich bedingten Kinderdemenz handelt sich um eine extrem seltene lysosomale Speichererkrankheit; nur eine Unterform (NCL2) kann seit einigen Jahren durch eine "Enyzme Replacement Therapy" behandelt werden.
- Ein frühzeitiger Beginn der NCL2 Therapie ist für den Erfolg von ausschlaggebender Bedeutung. Da die korrekte Diagnose der NCL2 Erkrankung häufig viel zu spät gestellt wird und eine wirksame Therapie existiert, wäre ein routinemäßiges Neugeborenen-Screening für diesen Gendefekt sinnvoll!
- Generell sollte ein Neugeborenen-Screening auch auf andere genetisch bedingte Erkrankungen, die bei rechtzeitiger Diagnose behandelbar sind, durchgeführt werden.
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Verantwortlicher: Klaus Rudolf; Kommentare und Fragen bitte an: rudolfklausblog@gmail.com
Disclaimer: Auf Klaus Rudolfs Blog gebe ich meine persönliche Meinungen und Erfahrungen weiter. Ich bin weder Arzt noch Finanzberater. Bitte informiere Dich breit und konsultiere bei Bedarf einen professionellen Experten in Gesundheitsfragen oder Finanzanlagen.