Seltene Erkrankungen: Ein Blick auf Ursachen, verfügbare Arzneimittel und deren Kosten! Blog#66

Seltene Erkrankungen sind ein oft übersehenes, aber dennoch wichtiges Thema in der medizinischen Welt. Tatsächlich betreffen diese Erkrankungen in ihrer Gesamtheit eine überraschend große Anzahl von Menschen.

Was sind seltene Erkrankungen? Was sind die Ursachen von seltenen Erkrankungen? Welche Arzneimittel gibt es und welche wird es in der Zukunft geben? Warum sind diese Medikamente so teuer?


Was sind seltene Erkrankungen?

Seltene Erkrankung bedeutet in der EU: Weniger als 5 von 10.000 Menschen sind von einer bestimmten Erkrankung betroffen. Manche seltene Erkrankungen betreffen bis zu 40.000 Patienten in Deutschland, unter anderen leiden nur einzelne oder wenige Dutzend Menschen.

Rund 8.000 verschiedene Erkrankungen gelten als selten. Manche sind seit Jahrzehnten bekannt, Jahr für Jahr werden aber auch Krankheiten erstmals beschrieben. Im Schnitt vergehen 5 Jahre bis zu richtigen Diagnose.

Von den seltenen Erkrankungen sind rund 80 Prozent genetisch bedingt! Die überwiegende Mehrzahl verläuft chronisch, mit schweren Einschränkungen in Alltagsgestaltung und Lebensqualität sowie deutlich verkürzter Lebenserwartung.

Schätzungsweise leiden insgesamt rund 4 Millionen Menschen in Deutschland an einer seltenen Erkrankung.

Ursachen von seltenen Erkrankungen

Die Ursachen für seltene Erkrankungen können vielfältig sein: Umweltfaktoren, Infektionen oder Autoimmunreaktionen. In den meisten Fällen - zu etwa 80 Prozent -  sind seltene Erkrankungen allerdings genetisch bedingt. Prinzipiell können diese genetisch bedingten Erkrankungen mit Hilfe der in den letzten Jahren erforschten und entwickelten Methoden der Gentherapie und der Genschere Crispr "geheilt" werden. Mit diesen modernen Instrumenten der Medizin können selbst kleinste Fehler im Erbgut korrigiert werden, bevor eine Krankheit entsteht. 

Und dieser Bereich entwickelt sich rasant: In den letzten Jahren wurden bereits fünf Gentherapien für seltene Erkrankungen von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zugelassen und in den kommenden Monaten wird voraussichtlich die erste Therapie mit der vielgerühmten Genschere Crispr zugelassen. 

Verfügbare Arzneimittel

Die Behandlung seltener Erkrankungen ist eine große Herausforderung, da es oft keine spezifischen Arzneimittel gibt, die speziell für diese Krankheiten entwickelt wurden. In einigen Fällen können jedoch auch Medikamente verwendet werden, die bei anderen Krankheiten eingesetzt werden, um die Symptome zu lindern oder den Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Manchmal sind auch chirurgische Eingriffe oder Therapien wie Physiotherapie hilfreich, um den Betroffenen zu helfen.

Eine ursächliche Behandlung genetisch bedingter seltener Erkrankungen kann jedoch nur durch eine Gentherapie erfolgen. Hier drei Beispiele für diese moderne Art der Therapie.

Wichtig zu verstehen: Die hier besprochenen Gentherapien werden einmalig(!) verabreicht und wirken im Idealfall ein Leben lang oder zumindest viele Jahre. Obwohl diese Medikamente einen hohen Preis haben, können sie langfristig betrachtet auch wirtschaftlich sinnvoll sein. 

Hemgenix (Etranacogene dezaparvovec) ist ein Gentherapeutikum zur Behandlung von Hämophilie B. Hämophilie B ist eine angeborene Blutungsstörung, die durch fehlende oder unzureichende Mengen des Gerinnungsfaktors IX verursacht wird. Hemgenix überträgt via Bluttransfusion ein intaktes Gen für den Gerinnungsfaktor IX, das in einem modifizierten Virus (AAV5) verpackt ist. Dadurch wird Faktor IX in der Leber des Patienten produziert und unerwünschte Blutungsereignisse verhindert.

Hemgenix wurde im November 2022 in den USA und im Februar 2023 in der EU zugelassen. Der Preis für die einmalige Anwendung beträgt in den USA 3,5 Millionen US-Dollar.

Trotz des hohen Preises kann das Medikament gesamthaft betrachtet Kosteneinsparungen für das Gesundheitssystem ermöglichen. Nach Berechnungen des Herstellers CSL Behring/ uniQure verursachen Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Hämophilie B mit den bislang verwendeten Therapien lebenslange Kosten von über 20 Millionen US-Dollar. 

Zolgensma (Onasemnogene abeparvovec), ist ein Gentherapeutikum zur Behandlung von spinaler Muskelatrophie (SMA). SMA ist eine seltene genetische Erkrankung, die durch eine Mutation im SMN-Gen verursacht wird und vorwiegend bei kleinen Kindern diagnostiziert wird. SMA führt zu fortschreitendem Muskelfunktionsverlust und häufig zum Tod im Kleinkindalter. Obgleich SMA relativ selten vorkommt, ist sie die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Säuglingen. Etwa 500 Säuglinge werden jedes Jahr in den USA mit SMA geboren.
Ähnlich wie oben für Hemgenix beschrieben, verwendet Zolgensma einen viralen Vektor (AAV9), um eine funktionelle Kopie des menschlichen SMN-Gens in die Zielmotorneuronen zu liefern. Dadurch werden normale, funktionsfähige SMN-Proteine produziert, die die Muskelfunktionen unterstützen.

Wird Zolgensma früh verabreicht, überleben betroffene Kinder nicht nur, sondern haben die Chance, dass die Krankheit einen deutlich milderen Verlauf nimmt. Unbehandelte Kinder mit einer schwer verlaufenden Form der SMA sterben in der Regel noch vor dem zweiten Lebensjahr. 

Zolgensma wurde von den Pharmafirmen AveXis und Novartis erforscht und entwickelt und 2019 in den USA sowie 2020 in der EU zugelassen. Der Preis von Zolgensma beträgt 2,1 Millionen US-Dollar pro Behandlung.

Die weltweit erste Crispr-Therapie exa-cel (exagamlogene autotemcel) wurde von Crispr Therapeutics und Vertex Pharmaceutical, für Patienten mit Sichelzellenanämie sowie Beta-Thalassämie entwickelt. Sichelzellenanämie sowie Beta-Thalassämie sind beide erbliche Blutkrankheiten, die durch eine Mutation im Hämoglobin-Gen verursacht werden. 
Die Therapie mit exa-cel nutzt die Genschere, um eine alternative Variante des Hämoglobin-Gens zu aktivieren. Dieses fetale Hämoglobin wird in der normalen menschlichen Entwicklung abgeschaltet, wenn das Kind den Mutterleib verlässt. Zur Reaktivierung werden Blutstammzellen aus dem Patienten isoliert und im Labor mit Crispr/Cas9 modifiziert. Als Vorbehandlung erhält der Patient eine leichte Chemotherapie, anschließend werden die veränderten Stammzellen wieder zurück in den Körper gegeben.

Die bisherigen Ergebnisse zeigen eine sehr gute Wirksamkeit. Allerdings betrug die Behandlungsdauer bislang höchstens 3 Jahre, was für eine endgültige Beurteilung der Wirksamkeit zu kurz ist.

Die US-Zulassung von exa-cel wird im zweiten Halbjahr 2023 erwartet, der Preis steht noch nicht fest, dürfte aber auch hier deutlich über 1 Million US-Dollar liegen.

Warum sind diese Medikamente so teuer?

Für die hohen Kosten dieser Gentherapeutika gibt es mehrere Gründe.

Erstens ist die Entwicklung von Medikamenten ein langwieriger und kostspieliger Prozess und selbst die Suche nach genügend Teilnehmern für klinische Studien ist oft ein echtes Problem. Darüber hinaus sind die Wirkungen der Therapie oft erst nach Wochen oder Monaten sichtbar und sollten dann über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte anhalten. Die Studien dauern daher meist ungewöhnlich lange.

Die relativ geringe Anzahl von Patienten mit seltenen Erkrankungen führt auch dazu, dass die Umsätze und damit mögliche Gewinne der Pharmaunternehmen begrenzt sind. Dies führt zu höheren Preisen, um die Entwicklungskosten auszugleichen. Nur zwei Beispiele: Für das zugelassene Gentherapeutikum Luxturna (Behandlung einer vererbten Augenerkrankung) gibt es in Deutschland kaum mehr als 200 Betroffene, die für eine Behandlung in Frage kommen. Und bei Strimvelis, einem Gentherapeutikum für die Behandlung einer genetisch bedingten schweren Immunerkrankung, werden jährlich in Europa nur etwa 15 Kinder geboren.

Diese wenigen Patienten müssen jedoch die gesamten Kosten der Entwicklung tragen. Eine sehr einfache Rechnung besagt: Damit sich eine Therapie für den Hersteller rentiert, muss sie bei nur wenigen hundert möglichen Kunden mindestens 1 Million US-Dollar kosten. Erst wenn eine Zahl von 30 000 Patienten überschritten wird, könnten die Preise auf etwa 100 000 Dollar sinken. Doch kaum eine Erbkrankheit kommt auf derartige Patientenzahlen.

Lange Zeit waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein bedeutendes Hindernis, denn wenn aufwendige Forschung mit geringen Erfolgschancen auf geringes Umsatzpotenzial stößt, ist die Refinanzierung der Forschungs- und Entwicklungskosten nicht möglich. Seit einigen Jahren gibt es allerdings sowohl in den USA als auch in Europa von den Gesundheitsbehörden attraktive Anreize für die Entwicklung neuer Medikamente für seltene Erkrankungen. Seit Einführung dieser Regelung ist vieles in der Behandlung seltener Erkrankungen besser geworden.

Auch ethisch gesehen ist die klinische Entwicklung eines Medikaments für seltene Erkrankungen eine Herausforderung: Das zunächst noch wenig gesicherte Wissen über die Krankheit und die in Erprobung befindliche Therapie kollidiert mit dem nachvollziehbaren Wunsch der Patienten nach schneller Verfügbarkeit einer zugelassenen Behandlung. Und viele der Patienten sind Kinder, die nicht oder nicht alleine entscheiden können. So kommen auf die Eltern schwere Entscheidungen zu: Wie verhält sich das Risiko durch ein neues Medikament in Erprobung gegenüber dem Risiko, dem ihr Kind unbehandelt ausgesetzt ist? Ist teilnehmen besser als nicht teilnehmen?

Fazit

  • Etwa fünf Prozent der Bevölkerung leiden an seltenen Erkrankung, wobei die meisten dieser Krankheiten genetisch bedingt sind. Damit sind “seltene Erkrankungen” insgesamt betrachtet eine hohe Krankheitslast, sowohl für das Gesundheitssystem als auch ganz besonders für die betroffenen Familien.
  • Die Entwicklung neuartiger Gentherapeutika ist ein vielversprechender Ansatz zur ursächlichen Behandlung genetisch bedingter seltener Erkrankungen. Allerdings sind diese Entwicklungen langwierig und kostspielig, sodass die Medikamentenpreise bislang über eine Million Euro pro Anwendung betragen! 
  • Da immer mehr Gentherapien für genetische Erkrankungen entwickelt werden, sollten sich alle Verantwortlichen bereits heute ernsthaft Gedanken machen, wie man sinnvoll mit diesen segensreichen medizinischen Fortschritt und den damit verbundenen Kosten umgeht! Wie soll das Neugeborenen-Screening auf genetisch bedingte Erkrankungen zukünftig aussehen, wie soll eine nachhaltige Finanzierung dieser neuen, innovativen Therapien sichergestellt werden, etc…??

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Verantwortlicher: Klaus Rudolf; Kommentare und Fragen bitte an: rudolfklausblog@gmail.com
Disclaimer: Auf Klaus Rudolfs Blog gebe ich meine persönlichen Meinungen und Erfahrungen weiter. Ich bin weder Arzt noch Finanzberater. Bitte informiere Dich breit und konsultiere bei Bedarf einen professionellen Experten in Gesundheitsfragen oder Finanzanlagen.

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