Die Zukunft innovativer Arzneimittel: Warum kleine Moleküle groß im Geschäft sind! Blog#84

In der Welt der Arzneimittelforschung schienen kleine organische Moleküle zeitweise an Bedeutung zu verlieren, während moderne Biotherapeutika als die Zukunft galten. Jedoch haben medizinische Chemiker in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen, dass kleine organische Moleküle nicht nur relevant sind, sondern auch Therapieoptionen ermöglichen, die zuvor als praktisch unmöglich galten. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass kleine organische Moleküle auch weiterhin eine bedeutende Rolle in der Arzneimittelforschung spielen werden.

Die Schlüsselunterschiede zwischen Biotherapeutika und kleinen organischen Molekülen

In der Arzneimittelforschung gibt es zwei Hauptkategorien von Therapeutika, die sich in ihren Eigenschaften und Anwendungsbereichen unterscheiden: Biotherapeutika und kleine organische Moleküle.

Biotherapeutika sind Arzneimittel, die aus lebenden Zellen oder durch biologische Prozesse gewonnen werden. Sie bestehen in der Regel aus komplexen Molekülen wie Proteinen, Kohlenhydraten, Nukleinsäuren und Zellen. Beispiele hierfür sind monoklonale Antikörper wie Humira, Gen- und Zelltherapien wie Zolgensma, Insulin und Impfstoffe.



Im Gegensatz dazu werden Wirkstoffe, die durch chemische Synthese hergestellt werden, als kleine organische Moleküle bezeichnet. Einige bekannte Beispiele sind Aspirin, Eliquis, Crestor und Zoloft.



Während Biotherapeutika in der Regel in lebenden Zellkulturen hergestellt werden und ein hohes Molekulargewicht (>1 kDa) aufweisen, werden kleine Moleküle durch robuste chemische Prozesse erzeugt und besitzen ein geringeres Molekulargewicht (< 1 kDa). Biotherapeutika sind empfindlich gegenüber dem Herstellungsverfahren und den Ausgangsstoffen, während kleine Moleküle unabhängig von der Synthesemethode und den verwendeten Materialien ihre chemische Identität beibehalten.

Diese grundlegenden Unterschiede führen zu verschiedenen Eigenschaften der beiden Arzneimittelarten. 
  • Biotherapeutika zielen oft hochspezifisch auf bestimmte Moleküle im Körper ab, was die Nebenwirkungen minimiert und die Wirksamkeit optimiert.
  • Ein großer Vorteil kleiner organischer Moleküle liegt in ihrer Eignung zur oralen Einnahme, zB als Tablette, was die Anwendung für Patienten bequemer gestaltet, während Biotherapeutika in der Regel per Spritze oder als Infusion verabreicht werden.
  • Zudem sind Biotherapeutika in der Regel aufgrund des aufwändigen Herstellungsprozesses sehr teuer und daher in "ärmeren" Ländern für die Mehrzahl der Patienten nicht zugänglich. Im Gegensatz dazu sind kleine organische Moleküle kostengünstig herstellbar und - nach Ablauf des Patentschutzes - weltweit kostengünstig für die Patienten verfügbar. 
  • Darüber hinaus können kleine organische Moleküle in Zellen und das Gehirn eindringen, was die Regulation von intrazellulären Mechanismen und die Anwendung für ZNS-Erkrankungen ermöglicht. Die meisten Biotherapeutika sind aufgrund ihrer Größe und strukturellen Komplexität dazu nicht fähig.

Warum sind kleine Moleküle in den letzten Jahren attraktiver geworden?

Die Fortschritte in der Strukturbiologie, genetischen Screening-Methoden und der Entwicklung neuer Synthesemethoden haben medizinischen Chemikern neue Wege eröffnet, um gezielt kleine Moleküle zur Bekämpfung von Krankheiten zu entwickeln. Traditionelle Ansätze der Arzneimittelforschung basierten auf dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Heute setzen Forscher jedoch kleine Moleküle ein, die kovalent an Proteine binden oder verwenden flexible organische Moleküle, um Proteine miteinander zu verknüpfen und eines davon abzubauen. Kleine Moleküle können heute auch die Funktion der RNA oder DNA gezielt modifizieren oder die Expression und Funktion von komplexen Zellproteinen regulieren. 

Beispiele für innovative Anwendungen von kleinen organischen Molekülen

Die Anwendung von kleinen organischen Molekülen hat in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte ermöglicht. Hier einige Beispiele:

I. PROTACs. PROTACs (Proteolysis Targeting Chimeras) sind heterobifunktionale Moleküle die in der Lage sind, bestimmte unerwünschte Proteine gezielt zu entfernen. PROTACs bestehen aus zwei kovalent verknüpften Proteinbindemolekülen: einem, das eine E3-Ubiquitin-Ligase binden kann, und einem anderen, das an ein Zielprotein bindet, das abgebaut werden soll. Die Rekrutierung der E3-Ligase zum Zielprotein führt zu dessen Ubiquitinierung und anschließendem Abbau über das Proteasom. Da PROTACs nur mit hoher Selektivität an ihre Zielproteine binden müssen (anstatt deren enzymatische Aktivität zu hemmen), gibt es derzeit viele Bemühungen, bisher unwirksame Hemmstoffmoleküle als PROTACs für die nächste Generation von Arzneimitteln umzufunktionieren.

PROTACs haben den Vorteil, dass sie potenziell sehr geringe therapeutische Dosen erfordern und das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen möglicherweise niedriger ist. Sie haben auch das Potenzial, Proteintargets, die bisher als "undrugable" galten, pharmakologisch zugänglich zu machen.



Obwohl bisher noch kein PROTAC die Zulassung erhalten hat, sind Experten zuversichtlich, dass solche Medikamente in naher Zukunft auf den Markt kommen werden.

II. Risdiplam für die Behandlung der spinalen Muskelatrophie: Ein weiteres faszinierendes Beispiel dafür, wie kleine Moleküle heute Dinge erreichen können, die zuvor nur biologische Medikamente erreichen konnten, ist Risdiplam. Risdiplam ist ein kleines organisches Molekül das hochspezifisch die genetische Ursache der spinalen Muskelatrophie (SMA) korrigieren kann.

SMA ist eine seltene, progressive neuromuskuläre Erkrankung, die tödlich verlaufen kann. Sie betrifft etwa eines von 10.000 Babys. Zugrunde liegt eine Mutation im Gen des Überlebensmotorneurons 1 (SMN1), die zu einem Mangel an »Survival-motor-neuron«-Protein führt. Dieses SMN-Protein ist essenziell für die Funktion der Nerven, die Muskeln und Bewegung steuern. Werden elektrische Impulse vom Gehirn nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet, kommt es zu fortschreitender Muskelschwäche. Die schwerste SMA-Form (Typ 1) führt unbehandelt bei 90 Prozent der Säuglinge bis zum Alter von zwei Jahren zum Tod oder zur ständigen Beatmungspflicht.

Das SMN-Protein wird von zwei Genen (SMN1 und SMN2) kodiert. Den meisten Patienten fehlt das SMN1-Gen, aber sie haben wenigstens eine Kopie des SMN2-Gens. Allerdings entsteht daraus nur ein verkürztes SMN-Protein mit deutlich reduzierter Funktion. Als »Spleißmodifikator« der SMN2-Prä-mRNA korrigiert Risdiplam das Spleißen von SMN2 und erhöht die Bildung von stabilem, funktionellen SMN-Protein. In klinischen Studien verdoppelten sich die Proteinspiegel innerhalb von vier Wochen nach Therapiebeginn; dieser Anstieg blieb während der Behandlung (mindestens zwölf Monate) bei allen SMA-Typen erhalten.



Die Jahrestherapiekosten von Risdiplam belaufen sich derzeit auf ca. 85.000 Euro. Nach Ablauf des Patentschutzes wird sich der Preis mit Sicherheit deutlich verringern - nach meiner persönlichen Einschätzung um mindestens den Faktor 100!

Zwei alternative Biotherapeutika sind für die Behandlung der SMA zugelassen:
  • Spinraza, ein Antisense-Oligonukleotid, das alle vier Monate ins Rückenmark gespritzt wird. Die Therapie kostet ca. 400.000 Euro pro Jahr. 
  • Zolgensma, ein AAV-9 basiertes Gentherapeutikum, das nur einmal verabreicht werden muss und etwa 2,2 Millionen Euro pro Dosis kostet.
III. Trikafta für die Behandlung der Mukoviszidose: Trikafta ist ein neuentwickeltes, hochwirksames Medikament zur Behandlung von Mukoviszidose, einer genetischen Erkrankung, die die Funktion des CFTR-Proteins beeinträchtigt. CFTR ist ein Kanal, der den Transport von Chlorid- und Natriumionen durch die Zellmembran ermöglicht. Trikafta besteht aus einer Kombination von drei Wirkstoffen: Ivacaftor, Elexacaftor und Tezacaftor. Diese Wirkstoffe wirken synergistisch (siehe untenstehende Abbildung), um die Funktion des CFTR-Kanals zu verbessern und die Flüssigkeitsverschiebungen, die bei Mukoviszidose gestört sind, zu korrigieren. 


Die Jahrestherapiekosten für Trikafta betragen derzeit 275.000 €. Aber auch hier ist eine drastische Preisreduktion nach Ablauf des Patentschutzes zu erwarten.

IV. RNAs: Schließlich gewinnt auch die Beeinflussung von RNA-Funktionen durch kleine organische Moleküle an Bedeutung. Forscher haben neuerdings erkannt, dass die RNA 3D-Strukturen annimmt, die Bindungsstellen für kleine Moleküle schaffen und so neue Ansatzpunkte für Arzneimittel bieten. Obwohl noch keine zugelassenen Arzneimittel in diesem Bereich existieren, ist das Potenzial dieses innovativen Ansatzes enorm.

Fazit

  • Kleine organische Moleküle als Arzneimittel sind kosteneffektiv, leicht herstellbar, oral bioverfügbar und können aufgrund ihrer Größe und Eigenschaften in Zellen, Gewebe und Organe penetrieren, die von Biotherapeutika (meist) nicht erreicht werden.
  • In den letzten 10 Jahren haben Fortschritte in der Strukturbiologie, genetischen Screening-Methoden und der Entwicklung neuer Synthesemethoden vielfältige neue Möglichkeiten für den Einsatz von organischen Molekülen in der Arzneimitteltherapie eröffnet.
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Verantwortlicher: Klaus Rudolf; Kommentare und Fragen bitte an: rudolfklausblog@gmail.com
Disclaimer: Auf Klaus Rudolfs Blog gebe ich meine persönlichen Meinungen und Erfahrungen weiter. Ich bin weder Arzt noch Finanzberater. Bitte informiere Dich breit und konsultiere bei Bedarf einen professionellen Experten in Gesundheitsfragen oder Finanzanlagen.

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